Hannes Seidl
Verhältnisse ändern
Entwurf eines zeitgenössischen M u s i k t h e a t e r s
Der Titel „Verhältnisse ändern" meint zum einen die gesellschaftlichen Verhältnisse, in
denen wir alle Leben und (künstlerisch) arbeiten. Teilasspekte dieser Verhältnisse wie das
Rechtssystem, das Finanzsystem, urbaner oder ruraler Lebensraum sind Themen, die in den
gemeinsamen Arbeiten von Daniel Kötter und mir aufgegriffen und nach ihren
künstlerischen Möglichkeiten bearbeitet worden sind. Der Titel meint aber auch die
Verhältnisse der einzelnen Medien, aus denen einen Musiktheater zusammengesetzt ist, den
Ästhetischen Apparat. Der Titel formuliert den Anspruch, die Verhältnisse dieser Teile
entsprechend dem Anspruch eines Stückes, seinem Thema oder seiner Forderung zu ändern.
Das Verhältnis von Publikum und Bühnenraum, von Zeit und Dauer, von Sehen, Hören und
Bedeuten darf nicht erstarren, auch wenn es häufig aus ökonomischen Gründen
standardisiert bleibt. Im vorliegenden Beitrag soll es, ausgehend von solchen
Grundüberlegungen, vor allem darum gehen, wie thematische Bezüge eines Stücks nicht nur
dargestellt werden, sondern eine Situation hergestellt werden kann, in der die thematische
Zielsetzungen eines Abends erfahrbar werden können.
Es ist offensichtlich, dass formale Konstruktionen inhaltliche Auswirkungen haben; ob
zum Beispiel ein Setting installativ oder konzertant ist, ob ein Text vertont wird, ob er als 0-
Ton eines Interviews zu hören ist, in schriftlicher Form präsentiert wird etc. Insbesondere die
Verhältnisse zwischen den Medien immer wieder neu zu denken, ist eine entscheidende
Aufgabe des Musiktheaters. Die Art und Weise, wie Musik und Film, Bühne, Licht, Raum,
Publikum und Text in der Zeit einander unterstützen, widersprechen oder ignorieren, sind
Entscheidungen, die die Haltung eines Stückes sowie der künstlerischen Leitung zeigt:
welchen Raum bekommt welches Medium? Wie „spricht" es? In welchem Verhältnis steht
der Bühnenraum zu einem filmisch-projizierten Raum? Wie verhält dieser sich zum
Publikum? Welche Größe hat eine Leinwand? Wo kommt der Klang her? Die jeweils
konkretisierten Kompositionen der Medien kommunizieren auf einer strukturellen Ebene.
Entscheidend für ein zeitgenössisches Musiktheater ist dementsprechend eine konstante
Befragung seines Apparats, der verwendeten Medien, Personen etc. auf ihre strukturelle
1
Beziehung zueinander. Dabei ist entscheidend, dass diese Beziehungen nicht im
permutativen Durchspielen der Möglichkeiten stehen bleiben, sondern ins Verhältnis zur
inhaltlichen Auseinandersetzung des jeweiligen Stücks gesetzt werden.
Diese Herangehensweise ist prekär, denn sie stellt erst einmal jeden Baustein eines
Musiktheaters in Frage: Sollte es Text geben und wenn ja, wird er gesprochen, gesungen,
gedruckt? Ist eine Bühnensituation sinnvoll, eine installative Raumanordnung oder ein
Spaziergang im Freien? Vor allem angesichts des bei Daniel Kötter und mir häufig
vorkommenden, stark dokumentarischen Charakters der Themen stellt sich die Frage, wie
sinnvoll oder absurd Instrumente oder das Musizieren auf der Bühne sind: Warum sollte
jemand bei einem Stück über den Finanzmarkt ein Instrument spielen? Warum sollte
gesungen werden und wenn, was? Welche Qualität des Musizierens ist sinnvoll: ein
professionelles Orchester, eine Band? Oder stattdessen Laien, deren (zufällig) erzeugte
Geräusche durch Mikrofonierung, Sampling und elektronische Bearbeitung musikalisiert
werden? Das Musizieren muss, wenn es selbst aktiver Bestandteil der Performance wird, in
seinen optischen, bedeutsamen und akustischen Ebenen stimmig sein und kann sich nicht
auf die Ausrede verlassen, dass bei Musiktheater nun mal Musik vorkomme.
Dass so eine Arbeit in einem Opernhaus nur unter großer Anstrengung möglich ist,
wenn überhaupt, ist offensichtlich. Die institutioneilen Standards großer Opernhäuser, die
spezialisierte Unterteilung in Libretto, Komposition, Regie, Gewerke, Orchester, Gesang
usw., die Architektur eines Orchestergrabens, einer Guckkastenbühne usw. konstruieren
ihre eigene Ästhetik, die sich in jede noch so zeitgenössische Oper einschreibt. Eine Arbeit, in
der nur in Bezug auf das Stück entschieden werden darf, ob es Sängerinnen gibt oder nicht,
ob es Musiker gibt, ob improvisiert werden soll, ob der Bühnenraum sich dem Publikum
öffnet und so weiter, ist derzeit immer noch nur an freien Häusern möglich, an denen Daniel
Kötter und ich entsprechend auch seit zehn Jahren arbeiten. 1 Die zentralen Fragen, mit
denen wir uns dabei immer wieder beschäftigen, und die in unterschiedlichen Formen in
unseren Stücken auftauchen, sind: Wie wollen wir leben? und, daran anschließend: Welchen
Erfahrungsraum wollen wir hersteilen ?
Die bisher entstandenen Musiktheaterstücke, Installationen, Kurzfilme oder Hörspiele
sind mögliche Formen, sich innerhalb einer begrenzten Zeit in einem begrenzten Raum mit
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diesen Fragen auseinanderzusetzen. Keins der bisherigen Stücke erhebt den Anspruch,
exemplarisch zu sein oder gar kanonisch. Im Gegenteil soll es darum gehen, einen
Erfahrungsraum zu öffnen, der sich erweitern und neue Musiktheaterformen denken lässt.
Die Arbeit ist in diesem Sinne experimentell. Wir erforschen neue Formen des Musiktheaters
und untersuchen, welche Strukturen welche Aussagen treffen können. Der Ansatz ist von der
Überzeugung geleitet, dass wir unsere Formen nicht einfach wiederholen können, dass für
jedes Stück eine entsprechende Form gefunden werden muss.
Begrenzte Zeit
Während Film, Ton-Aufnahmen, Text und Sprache die Möglichkeit haben, Zeit zu
wiederholen oder zu springen, läuft die Zeit auf der Bühne, die gemeinsam erfahrene Zeit im
Theatersaal, linear ab, auch wenn sie gefühlt unterschiedlich schnell oder langsam vergehen
mag.
In Falsche Freizeit 2 von 2010 werden vier Bühnen, auf denen ehemalige Handwerker
sitzen und eine Geräuschkomposition auf der Grundlage ihrer handwerklichen Fähigkeiten
spielen, mit Mikrofonen und Kameras aufgenommen. Diese Aufnahmen werden 20 Minuten
zeitverzögert auf vier Leinwänden und Lautsprechern an der Hinterseite der Bühnen
wiedergegeben. Da Kameras und Mikrofone davor positioniert sind, werden die
Projektionen ebenfalls in das Delay eingespeist, so dass weitere 20 Minuten später nicht nur
die Live-Aktionen, sondern auch die erste Aufnahme zu sehen sein wird und so weiter. Auf
diese Weise entsteht eine Feedbackschleife, die sich - wie ein lang gedehnter Kanon - alle
20 Minuten um eine weitere Schicht ergänzt.
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Abb. 1: Daniel Kötter / Hannes Seidl: „Falsche Freizeit", 2010
Während die vier Performer sich auf der Bühne mit ihrer persönlichen Vergangenheit
auseinandersetzen, ihre alten Tätigkeiten wieder aufleben lassen und für die Produktion
eine Noise-Konzerts zweckentfremden, werden sie im Aufführungsraum mit ihrer jüngsten
Vergangenheit - den letzten 20 Minuten - konfrontiert. Vergangenheit und Gegenwart
überlagern sich in diesem Stück anhand von erzählten Erinnerungen, veralteten Medien wie
Tonbandgeräten oder Super 8-Projektoren 3 und der - falschen - Nutzung nicht mehr
gebrauchter, handwerklicher Tätigkeiten als neue, instrumentale Fertigkeiten für ein
Konzert. Der formale Ablauf des Abends ist die stetige Überlagerung der letzten 20 Minuten
mit der aktuellen Zeit. Die Verdichtung auf einer klanglichen Ebene geht einher mit einer
Verdichtung der Bedeutungsebenen, wenn etwa ein Protagonist zunächst an einem Stück
Holz Unebenheiten herausfeilt, um diese Aktion 20 Minuten später mit einem Geigensolo zu
kontrapunktieren, wobei er die Bewegungsabläufe des Feilens imitiert.
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Abb. 2: Daniel Kötter / Hannes Seidl: Falsche Freizeit", 2010
Während im ersten Durchlauf das Feilen noch als eine Tätigkeit gesehen werden kann, die
Klang nur als Nebenprodukt erzeugt, wird in der Wiederholung aus den simultanen
Bewegungen ein Duett - und die Klangerzeugung zur Hauptsache. Neben den semantischen
Bezügen des Deiays als Maschine, die Vergangenheit konserviert, fungiert es auch als
Entsemantisierungs-Gerät. Indem sich die profanen Arbeitsvorgänge der Darsteller von ihrer
zielorientierten Bedeutung entfremden und als Bewegungs- und Klangproduzenten
verselbstständigen, lösen sie sich ein Stück weit vom ursprünglichen Sinn ohne diesen ganz
zu verlieren; sie werden musikalisiert.
Begrenzter Raum
Auch in RECHT 4 von 2015 sind gefilmte Zeit und Bühnenzeit verschieden. In diesem zweiten
Teil der Trilogie Ökonomien des Handelns, die Daniel Kötter und ich zwischen 2012 und 2016
gemeinsam mit der Szenografin Rahel Kesselring produziert haben, steht eine Leinwand auf
der linken Bühnenhälfte, während sieben Musikerlnnen des belgischen Ensembles Nadar auf
der rechten Bühnenhälfte ihren Raum haben. Die Leinwand zeigt einen vorproduzierten
Film, der während 24 Stunden auf einer Insel im Niemandsland vor Schengen entstanden ist,
wo Rechtswissenschaftlerlnnen in einem von uns inszenierten Zeltlager zusammen saßen,
mit der Aufgabe, ein neues, besseres Rechtssystem zu entwerfen. Der etwa 80 Minuten
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lange Film springt in den 24 Stunden vorwärts, wobei diese Jump-Cuts (scheinbar) von der
Bühne aus durch die Musiker, durch einen Button sichtbar gemacht, gesteuert werden.
Abb. 3: Daniel Kötter / Hannes Seidl: „RECHT", 2015
Inhaltlich beschäftigen sich die Juristen mit Rechtsräumen, mit den Grenzen
dazwischen, aber auch mit der Schwierigkeit, immer wieder Grenzen ziehen zu müssen,
zwischen Personen, auf die ein Recht zutrifft, und welche auf die es nicht zutrifft, beim
Definieren einer juristischen Person, einem Menschen, einer Sache usw. Auch das Verhältnis
von Film und Musik ist von starken Grenzen durchzogen. Zum einen haben sie an
verschiedenen Orten stattgefunden, sind räumlich auch auf der Bühne getrennt, zum
anderen sind die Zeitregime unterschiedliche. Auf der anderen Seite werden in dem Stück
diese Grenzen immer wieder zu durchbrechen versucht, indem etwa zeitliche und räumliche
Synchronizitäten simuliert werden, was die Grenzen freilich gerade erst als solche markiert.
So ist zum einen das Bühnenbild eine Annäherung an das Setting im Film: Die rechte
Bühnenhälfte, auf der die Musikerlnnen sitzen und spielen, wirkt wie eine Verlängerung des
Films: an beiden Orten existiert eine „Bühne" aus Europaletten, eine Lichterkette hängt
darüber. Zum anderen gibt es mehrere Stellen, an denen die Grenze zwischen Bühne und
Leinwand überschritten wird. Kurz nach Beginn des Stücks verschwinden zwei Musiker -
Pieter Matthynsens und Yves Goemaere - von der Bühne, um gleich darauf im Film wieder
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aufzutauchen, wo sie Instrumentenkoffer aufsammeln, um mit ihnen auf der realen Bühne
wieder aufzutauchen. Später verschwindet Pieter Matthynsens erneut mit seinem Cello, um
mit diesem im Film aufzutauchen und die Juristen ein Solo zu spielen, das allerdings durch
zunehmende Beteiligung der Bühnenmusiker in ein Ensemblestück mündet. An einer
anderen Stelle spielt das gesamte Ensemble ein kleines Konzertstück, während im Film die
Juristen aussehen, als ob sie diesem Livekonzert zuhören und - sobald das Stück beendet ist
- auch applaudieren. Schließlich gibt es noch die erwähnten Jump-cuts. Um den Effekt zu
verstärken, dass der Film live von der Bühne aus geschnitten wird, sind die Übergänge im
Ton unsauber, es knackst jedes Mal, wenn die Musikerlnnen den Knopf betätigen. Die
Sprünge haben aber auch Einfluss auf die Bühne: springt der Film in der Zeit vorwärts, tut
das auch die Livemusik oder das Licht auf der Bühne, etwa, wenn es im Film plötzlich Nacht
geworden ist.
Die übliche Situation, dass die Bühnenzeit sich der Filmzeit unterordnen muss, wird
nicht nur umgedreht, indem die Musiker die Filmzeit selbst steuern können, sondern auch
wieder in ein Wechselseitiges Abhängigkeitsverhältnis gesetzt, wenn Musik und Licht
ebenfalls springen müssen. Das kulminiert in einer schnell geschnittenen Filmszene, in der
die Juristen zu einer live gespielten Version von Bella Ciao zu tanzen scheinen, die ebenso
wie der Film so zerschnitten ist, dass der Beat des Stücks noch erkennbar, aber nicht mehr
tanzbar ist.
Abb. 4: Daniel Kötter / Hannes Seidl: „RECHT", 2015
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Öffnung
Bei LIEBE 5 von 2016 - dem dritten Stück der erwähnten Trilogie - ist der Film schnittlos und
entspricht so in seiner abgebildeten Zeit der Dauer des Abends. Zu sehen ist eine Person
(Wolfram Sander), der die Kamera im Abstand von einigen Metern folgt, die durch eine
Schneelandschaft am nördlichsten Punkt Europas einem Fjord entgegenläuft. Auf der Bühne
ist vor der Leinwand ein Bandsetup aus Schlagzeug, E-Bass, E-Gitarre, Keyboards und
Plattenspielern aufgebaut, links steht ein Tisch mit Lichtpult. Die selbe Person, die im Film zu
sehen ist, betritt die Bühne und beginnt - nachdem sie sich kurz über Blickkontakt mit ihrem
Alter Ego im Film synchronisiert hat - kleine Eis-Stücke aus einem großen Eisblock zum
stetigen Rhythmus der Schritte im Schnee herauszuarbeiten und diese über die Instrumente
zu hängen, nicht ohne vorher die entsprechenden Stellen im Raum mit Spots zu beleuchten.
Die Tropfen des schmelzenden Eises erzeugen weitere Klänge: zunächst gibt es Pulse auf
dem Schlagzeug, dann auf einem E-Bass, später konstante Töne auf diversen Keyboards, und
mithilfe einer Kippvorrichtung wird alle paar Minuten ein Powerchord auf einer E-Gitarre
angeschlagen. Der Musiker ist - ebenso wie der Wanderer - bei alldem allein. Er baut sich
seine eigene Musikmaschine mithilfe schmelzenden Eises, bedient das Lichtpult selbst und
synchronisiert sich mit seinem Alter Ego im Film.
Abb. 5: Daniel Kötter / Hannes Seidl: „LIEBE", 2016
ln entsprechender Weise sind auch die Zeitabläufe identisch: Filmzeit ist gleich
Bühnenraumzeit. Der Protagonist im Film läuft beständig auf den Fjord zu. Als er ihn nach
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einer knappen Stunde erreicht, ist der letzte Eisblock über ein Instrument gehängt worden -
das Bild ist komplett. Innerhalb dieser Synchronizität ist es die Performativität des
schmelzenden Eises, seine im Augenblick entstehende Klanglichkeit, die das Stück lebendig
hält. Die Tropfen der schmelzenden Eisblöcke sind jedes Mal anders, die musikalische Textur
hängt von der Jahreszeit ebenso ab wie von der Anzahl des Publikums und der Raumgröße, 6
so dass der Abend trotz identischer Länge jedes mal eine andere Qualität bekommt. Am Ufer
des Fjords angekommen, trifft der Filmprotagonist auf eine Gruppe von Menschen, die
ebenfalls mit demselben Ziel unterwegs waren. Gemeinsam wärmen sie sich am Feuer; in
der unwirtlichen Gegend entsteht eine Gemeinschaft. Auch auf der Bühne ist der
Protagonist an seinem Ziel angekommen, das Instrumentarium ist bestückt, der installative
„Love Song" klingt. Jetzt öffnet er sich auch der Protagonist auf der Bühne der immer schon
anwesenden Gemeinschaft: dem Publikum. Er betritt den Zuschauerraum und verteilt
zerstoßenes Eis mit Sirup, gleichzeitig öffnet er den Bühnenraum als begehbare Installation.
Liebe, verstanden als Bindekraft zwischen den Menschen, die jede Gemeinschaft braucht,
um zu existieren, wird im Film gezeigt, im Theaterraum als Möglichkeit hergestellt. Indem
das Stück zur Installation wird, bekommt das Publikum die Souveränität über die
Zeitgestaltung. Die temporäre Gemeinschaft wird ermutigt, sich den weiteren Verlauf des
Abends selbst zu gestalten, zu verweilen, sich zu unterhalten, die Instrumente betrachten,
weiter zuhören oder gemeinsam den Raum verlassen.
Mit einer solchen installativen Raumzeit beginnt Stadt (Land Fluss) 7 von 2017, das im
Verlauf des Abends quasi zurück in eine Bühnenzeit geführt wird. Das Publikum betritt in
diesem Stück, das den ersten Teil der Trilogie „Stadt Land Fluss" bildet, einen begehbaren
Bühnenraum, in dem es sich frei bewegen kann. Zu hören ist nur etwas mit speziellen, von
der Klangkünstlerin Christina Kubisch entworfenen, elektromagnetischen Kopfhörern. Diese
Kopfhörer reagieren auf elektromagnetische Felder: je näher sie etwa einem
Lautsprecherkabel kommen, desto stärker wirkt sein elektromagnetisches Feld und desto
lauter ist zu hören, was zum Lautsprecher geschickt wird. Christina Kubisch hat mit dieser
Erfindung neben Installationen vor allem sogenannte Electrical Walks erstellt: künstlerische
Stadtraumerkundungen, in denen die Besucherinnen mit ihren speziellen Kopfhörern
ausgestattet den Elektrosmog einer Stadt akustisch erfahren können. 8 In Zusammenarbeit
mit ihr ist diese Technik bei Stadt (Land Fluss) das erste mal in einem Musiktheaterstück zum
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Einsatz gekommen. Mit achtzehn Kabelwegen, die entsprechend achtzehn unterschiedliche
Klangquellen abbilden können, haben wir bei Stadt (Land Fluss) eine heterogene
Klanglandschaft erstellt, die sich durch ein Labyrinth aus Trockenbau-Elementen des
Bühnenbildners Paul Zoller zieht und das Publikum anhält, sich durch dieses Labyrinth zu
bewegen. Da keines der Kabel in einem Lautsprecher mündet, sind die Klänge nur zu hören,
wenn man sich den Kabeln mit Kubischs Kopfhörern nähert. Während das Publikum sich frei
durch den Raum wie durch eine Ausstellung bewegt, hört es so z.B. Stadtgeräusche,
elektromagnetische Stadtgeräusche, Musik oder Aufnahmen von Interviews; Gespräche mit
Städteplanern und Stadt-Theoretikerinnen oder Diskussionen mit Bewohnerinnen
alternativer Hausprojekte.
Drei Musikerlnnen (Andrea Neumann, Martin Lorenz und Sebastian Berweck) stehen
im Raum verteilt und spielen die Musik live. Sie spielen elektronische Instrumente, die je
über ein Kabel in ihrer Nähe zu hören sind. Die Stadtgeräusche entpuppen sich schnell als
Soundtrack zu einem schnittlosen 360°-Film, der - auf 60 kleine Bildschirme verteilt - im
Raum zu sehen ist. Die Bildschirme sind so angeordnet, dass die Blickachse im Bühnenraum
jeweils der Blickachse des abgefilmten Raums entspricht: Der filmische Raum ist quasi in den
Bühnenraum hineingefaltet. Das Publikum kann sich nicht nur frei im Raum bewegen, es
kann sich durch diese Bewegung seinen eigenen Soundtrack zum Film herstellen, etwa
indem es sich vor einen Bildschirm stellt, der zwischen einer Schlaufe mit Musik von
Sebastian Berweck und einem Gespräch zwischen Anwohnern einer Hausgemeinschaft
hängt. Entfernt sich die Person, erklingt möglicherweise nach und nach der Originalton des
Films, gleichzeitig werden Musik und Gespräch leiser.
Während es im Film und im Aufführungsraum immer dunkler wird, werden nach und
nach die sichtbehindernden Rigipsplatten von drei Performern abmontiert und auf dem
Boden zu Sitzgelegenheiten gestapelt. Auf diese Weise wird das Publikum animiert, sich zu
setzen. Der Raum wird visuell durchlässiger, gleichzeitig weiten sich die Klänge der Musik
nach und nach über den ganzen Raum aus, bis sie schließlich an allen Orten zu hören ist. Der
installative Raum verwandelt sich in einen konzertanten Raum. Es ist nicht mehr notwendig,
durch den Raum zu laufen, um einen bestimmten Klang zu hören oder etwas zu sehen. Das
Publikum wird zum Schluss zurück geführt in den Bühnenraum und dessen Raumzeit, den es
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sitzend erfahren kann. Die Heterogenität eines Stadtraumes, die zu Beginn nachgezeichnet
wird, die isolierte Situation darin, kippt in eine andere Qualität, in einen musikalischen
Kommentar zum Stadtraum, innerhalb dessen die Heterogenität als konzertante Qualität
erfahrbar gemacht wird.
Text und Sprache
In den besprochenen Arbeiten Stadt (Land Fluss), RECHT und Falsche Freizeit ist Text jeweils
ausschließlich gesprochenes Wort. Bei Stadt und Falsche Freizeit sind es jeweils
Zusammenschnitte aus Gesprächen, die wir im Rahmen einer Recherche mit den erwähnten
Partnern geführt haben. Auch in RECHT ist die textuelle Ebene fast ausschließlich aus den
Gesprächen der Protagonisten auf der Insel entstanden, angereichert mit kurzen Zitaten, die
im Rahmen der Recherche für Daniel Kötter und mich wichtig geworden sind, um den
Diskurs der Juristen kontextualisieren zu können. In keiner unserer Arbeiten haben wir bis zu
diesem Punkt unsere eigenen Worte verwendet oder uns einer fiktiven sprachlichen Vorlage,
etwa eines Romans, bedient. Das erste mal, dass wir mit einem Librettisten gearbeitet
haben, war bei Land (Stadt Fluss) 10 . Anders als in anderen Stücken taucht Text hier nicht als
gesprochenes Wort auf, sondern als geschriebener Text in Buchform. Dieses Buch bekommt
das Publikum am Eingang in die Hand. Die Autonomie, den Text frei von der Zeit des Stücks
in eigener Zeit zu lesen, ist auch der inhaltliche Ausgangspunkt des Abends.
Das Stück Land (Stadt Fluss) beschäftigt sich mit der Frage des Zusammenlebens in
kleinen, überschaubaren Kommunen. Wie schon in den früheren Stücken ging es auch hier
darum, eine Erfahrung -in diesem Fall die einer temporären Kommune -nicht nur
darzustellen, sondern herzustellen, also sowohl im Filmraum - wie wir es zuvor etwa auch
für die Juristen von RECHT getan haben - als auch im Bühnenraum für das Publikum. Das
Publikum, das den Theaterraum betritt ist, findet anstelle von Bestuhlung einen Raum mit
einer Wiese vor, mit Picknickdecken, auf die es sich legen kann. Am Eingang bekommt es das
erwähnte Buch. Am Ende der Wiese hängt eine raumfüllende Leinwand, auf die ein
fünfstündiger, schnittloser Film projiziert wird. Dieser zeigt, wie eine mehr oder weniger
heterogene Gruppe von Menschen einen scheinbar verlassenen und heruntergekommenen
Bauernhof wieder herrichtet und sich dort einrichtet. Für die Zeit zwischen 18h und
Mitternacht zeigt sich die Landschaft als ein sich langsam wandelndes Tableau von
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Menschen auf einer Wiese vor einem Bauernhof. Der Film zeigt, wie sie kochen, das Haus
streichen, ein identitätsstiftendes Monument aus Flaggen bauen oder einfach auf der Wiese
sitzen, lesen, sich unterhalten und Bier trinken. Vier Blechbläser setzen sich von Zeit zu Zeit
allein oder zu zweit mit Picknickdecken auf die Wiese und spielen, nicht für ein Publikum,
sondern für sich, eine scheinbar endlose, vierteltönige Melodie. Die Kamera befindet sich an
einer fixen Position auf der Wiese und dreht sich konstant einmal pro Stunde um ihre eigene
Achse: sie „scannt" die Umgebung und funktioniert so wie eine Uhr. Ihre konstante
Bewegung bietet eine Orientierung in der Zeit, in der jede Stunde erneut der Hof, eine Allee,
der Nachbarhof oder ein schmaler Pfad, immer wieder auftaucht.
Abb. 6: Daniel Kötter / Hannes Seidl: „Land (Stadt Fluss)", 2018
Der Aufführungsraum bildet eine Verlängerung des Filmraums, deutlich gemacht an
dem erwähnten Pfad, der die Wiese durchzieht und an dem sich einmal pro Stunde für einen
kurzen Moment Film und Aufführungsraum synchronisieren, bevor das Bild sich wieder
weiterdreht und die Pfade sich voneiander entfernen. Im Aufführungs- wie im Filmraum gibt
es Menschen, die auf Picknickdecken auf der Wiese liegen, Bier trinken, lesen oder die
Umgebung betrachten. In beiden Räumen wird gekocht und nach etwa drei Stunden gibt es
tatsächlich Linsensuppe für alle, Getränke stehen zur Selbstbedienung bereit. Wie im Film
sitzen auch im Aufführungsraum ein bis vier Musikerlnnen auf der Wiese und spielen eine
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endlose, vierteltönige Melodie. Ihre Haltung ist die des nach innen gerichteten Musizierens.
Sie spielen für sich, Zuhörerinnen sind willkommen, aber nicht adressiert. Ihre Musik ist
eingebettet in den sechskanaligen Surround-Ton des Films, der vor allem athmosphärisch
wirkt; die Gespräche der Protagonisten sind aufgrund der Weite des Raums und der
Entfernung der Kamera nicht zu verstehen, sie verlieren sich in einer Geräuschkomposition.
Diese Gespräche der Menschen, das, was in ihnen vorgeht, welche Debatten sie haben
könnten, sind Dinge, die in dem von Fabian Steinhauer verfassten Buch verhandelt werden.
Das Buch - das Fabian Steinhauer alias Johann Pastuch Libretto genannt hat - hat keine
feste Lesezeit und keinen festen Raum im Theater. Im Gegenteil kann die Erzählung in
Räume und Zeiten springen, die den realen Bühnenzeitraum sprengen. Das Buch ist fiktiv,
die Geschichten sind aber angelehnt an die Erfahrungen, die wir als Team vor und während
der Dreharbeiten rund um den Aussiedlerhof in Dehrn gemacht haben. Gleichzeitig
synchronisiert es sich immer wieder mit Klängen und Bildern der Aufführung. Zum einen ist
es in fünf Kapitel unterteilt, die mit „Die erste Stunde" bis „die fünfte Stunde" bezeichnet
sind . In diesen werden immer wieder Situationen beschrieben, die das Publikum auch im
Film sehen oder im Aufführungsraum hören kann. So gibt es im Buch einen Dialog zu Beginn
der zweiten Stunde, während man auch im Film während der zweiten Stunde zwei
Menschen auf einem Heuballen sitzen sieht, die sich angeregt unterhalten. Das Buch
beschreibt einen Bienenschwarm, der auch in der Tonspur zu hören ist, eine Gruppe von
Burgmannen, die zur dritten Stunde mit ihrer Kanone anrücken, werden im Text antizipiert,
ebenso wie immer wieder die auf der Leinwand abgebildete Gegend beschrieben wird.
Zwischendurch entfernt der Text sich von dem Geschehen, weicht aus oder berichtet über
Hintergründe, um dann wieder anzudocken. Ob das Publikum tatsächlich jede Stunde nur
ein Kapitel liest (Lesedauer ist jeweils etwa 10-15 Minuten), gleich zu Beginn das ganze Buch
durcharbeitet oder erst sehr viel später darin blättert, bleibt jeder und jedem selbst
überlassen. Die Synchronizitäten zwischen Text, Film und Aufführungsraum werden so je
nachdem zu Wiederholungen/ Erinnerungen oder Vorgriffen/ Teasern.
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Abb. 7: Daniel Kötter / Hannes Seidl: „Land (Stadt Fluss)", 2018
Die Eigenzeit, die das Buch dem Publikum anbietet, ist strukturell zentral für die Idee
dieser Kommune, in der Tätigkeiten nicht über eine abstrakte Uhrzeit synchronisiert werden,
sondern dauern, so lange sie dauern. Die Grundkonstellation des Stücks besteht in der
Haltung, dass die Dinge und die Menschen zwar jeweils für sich sind, aber dennoch
aufeinander Rücksicht nehmend und sich helfend verbunden sind. Man lebt zusammen, lässt
sich aber seinen Raum. Dementsprechend sind die Medien zwar auf einander abgestimmt,
aber eher lose, sie behalten ihre Eigenzeit. So spielen die Musikerlnnen im Aufführungsraum
zwar nach einer Partitur, diese gibt ihnen aber immer wieder einen Freiraum, den genauen
Zeitpunkt, das genaue Tempo oder die Dauern dem Moment anzupassen. Die Musiker
spielen mit der Angabe, sich in den Gesamtklang einzufügen, ihn in Form von akustischen
Linien zu markieren und nicht in den Hintergrund zu drängen, sie spielen in der Haltung einer
respektvollen Gleichgültigkeit. 11 Auch die Kamera filmt das Geschehen, ohne besondere
Momente hervorzuheben oder darauf einzugehen. Sie dreht sich unabhängig von den
Ereignissen, und diese passieren nicht mit der Bewegung der Kamera. Sie zeigt, ohne zu
werten. Was gefilmt wird, ist gleich gültig. Und so wie das Essen fertig ist, wenn es eben
fertig ist, hat auch das Publikum die Möglichkeit, sich in dem Erfahrungsraum aufzuhalten,
zwischendurch rauszugehen und wieder zu kommen, sich umzusetzen, oder zu schlafen. 12
Auch die sechskanalige Tonspur ist zwar mit dem Film synchronisiert, folgt aber zugleich
ihrer eigenen, den Film erweiternden Logik. Das, was die Kamera nicht zeigt, was sich ihrem
Ausschnitt entzieht, kann der Surround-Ton hörbar machen. Alles, was gerade hinter oder
über der Kamera passiert oder passieren könnte, ist klanglich Erfahrbar.
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So sind die Klänge der Bläser im Film in der Regel auch zu hören und zu orten, wenn sie
aus dem Bild verschwunden sind, faden aber manchmal auch einfach aus. Auf dem Hof ist
eine stetig anwachsende Zahl von Menschen zu hören, die sich nach und nach dort
versammeln, und deren wachsender Geräuschpegel das Bild antizipiert. Darüber hinaus gibt
es Geräusche, die keine visuelle Entsprechung haben, wie einen Bienenschwarm (der
allerdings wie bereits erwähnt wiederum im Buch auftaucht), entfernte Flugzeuge, ein
brachial lauter Düsenjet (der ebenfalls im Buch erwähnt wird), ein entferntes Dorffest,
Traktoren, eine Band, die entfernt im Keller übt, Hühner, Krähen, Wind, entfernte
Kirchenglocken, Zikaden am Abend und etliches Anderes. Diese an das „Cinema pour
l'oreille" anknüpfende Tradition funktioniert in Land (Stadt Fluss) wie eine Art
Zwischenmedium zwischen musikalischem und erfassendem Hören. Einerseits sind die
Klänge fast immer als Geräusche realer Begebenheiten identifizierbar, die in der Landschaft
des Films zumindest möglich wären, wie die Zikaden, Traktoren, Flugzeuge oder Menschen.
Gleichzeitig bieten die Geräusche immer wieder an, als musikalische gehört zu werden,
insbesondere, wenn sie ins Verhältnis zu den Bläsern gesetzt werden. Am deutlichsten ist
zunächst das ohrenbetäubende Flugzeug, dass über die Köpfe des Publikums donnert, dass
eindeutig nicht real ist, dennoch aufgrund seiner singulären Lautstärke und rein akustischen
Existenz die Ohren öffnet. Später gibt es ein Duo zwischen einer Trompete und einem
Traktor, dessen klare, leicht glissandierende, an- und abschwellende Tonhöhe sich nach und
nach aus dem Gesamtklang der Umgebung loslöst und schließlich fast allein mit der
Trompete zu hören ist. Auch die entfernteren Flugzeuge, die immer wieder auftauchen,
werden durch leichtes Filtern nach und nach zu Tonhöhen-Produzenten verwandelt, bis
schließlich rein elektronisch erzeugte Glissandi erklingen, die nur noch entfernt an echte
Flugzeuge erinnern. Die Grillen, die mit einbrechender Dunkelheit zunehmend dominant
werden, sind neben ihrer elektronisch anmutenden Klanglichkeit schließlich auch eine
Verneigung vor Presque rien 13 von Luc Ferrari. Und während die Tonspur nach einer
dokumentarischen Abbildung der akustischen Wirklichkeit des Films klingt, wird die
konstruktive Möglichkeiten der Fälschung und Künstlichkeit hier genutzt, um Dualismus
zwischen Musik und Atmo immer wieder aufzulösen.
Die Eigendynamik aller Medien spiegelt sich - für Daniel Kötter und meine
gemeinsame Arbeit vielleicht am zentralsten - auch in unterschiedlichen Zeitregimen, denen
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die Abläufe zugeordnet sind. Es gibt den natürlichen Verlauf der Sonne, die nach etwa der
Hälfte des Stückes untergeht, was mit fünf Kanonenschüssen der Gruppe von Burgmannen
feierlich salutiert wird. Der Verlauf des Sonnenlichts wird im Bühnenraum imitiert, so dass
dieser sich auch als Erfahrung auf das Publikum auswirkt. Die Kamera unterteilt diese
kontinuierliche Bewegung wie erwähnt in fünf Segmente von jeweils einer Stunde. Die
Musiker richten sich nach einer anderen, der dezimalen Einteilung des Tages: Anstelle von
zwölf ist ihr Tag in zehn Stunden unterteilt. 14 Diese dem französischen Revolutionskalender
entnommene Einteilung wird durch eine Fanfare zu jeder vollen Stunde (entspricht alle 72
Minuten des 12 Stunden Tags) markiert. Diese Fanfaren sind die einzigen Momente, in
denen die Musiker direkt in die Kamera spielen, respektive aus dem Aufführungsraum zur
Leinwand. Auch die fünf Kapitel des Buches richten sich nach dieser Zeitrechnung, jeder der
fünf Abschnitte endet mit dem Satz: „ Drei Musiker treten mit Blasinstrumenten auf.
Fanfare."
In weiter Entfernung ist alle 15 Minuten eine Kirchturmglocke zu hören: eine
Reminiszenz an die „alte" Zeit. Auf einer vorbeiziehenden Allee marschiert jede fünfzig
Minuten ein Blasorchester entlang. Nicht zuletzt wird der Abend durch den herausfallend
lauten Krach des erwähnten Düsenjets und später eines ebenso lauten Hubschraubers
eingeteilt. Andere Tätigkeiten wie das Kochen, das Musizieren oder Fußballspielen bleiben
singulär.
Auch wenn bei Land (Stadt Fluss) die Klänge, die Bühne, der Film, die Musik, die
Aktionen und das Buch weniger streng zeitlich aufeinander bezogen sind, sind sie umgekehrt
unter inhaltlichen Aspekten umso enger aufeinander bezogen. Gerade die Freiheit eines
heterophonen Bezugsrahmens, die dem heterophonen Beziehungsgeflecht zwischen den
Akteuren der temporären Kommune entspricht, kann nur durch die lose zeitliche
Verbindung zwischen den Aktionen klar werden.
Die Stücke, die Daniel Kötter und ich gemeinsam entwickelt haben, sind, entsprechend
ihres jeweiligen Sujets, auf unterschiedlichen Ebenen synchronisiert. Entscheidend ist
jeweils, dass die Verhältnisse zwischen den Medien, zwischen Aufführungs- und
Zuschauerraum, zwischen Hören, Sehen und Bedeuten jeweils in Bezug auf die Aussage, die
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Fragstellung oder den Inhalt eines Stückes hin gesetzt werden. Die Arbeit daran, eine
geeignete Form, eine Struktur, einen Raum mit einem Stück zu entwickeln ist ein
experimenteller Ansatz, der nur in gemeinsamer Arbeit und im Ausprobieren entstehen
kann. Die Forschung an zeitgenössischem Musiktheater, an den Möglichkeiten dessen, was
dieses Genre für Möglichkeiten bietet, ist, was uns immer wieder neu interessiert. Die Form
der Stücke rahmt nicht nur, sie produziert ihre jeweils eigene, spezifische Aussage. Erst wenn
diese gemeinsam mit dem Stück entwickelt wird, kann ein Musiktheaterereignis entstehen,
das nicht einfach nur etwas darstellt, sondern etwas herstellt: eine Zeiterfahrung, die die
Möglichkeit öffnet, Verhältnisse zu ändern, zwischen Bild und Ton, sehen und hören,
zwischen Menschen.
1 Dass es nach wie vor an einem Haus fehlt, an dem auf dem Ausstattungsniveau eines Opernhauses
gearbeitet werden kann, und dies unter den Bedingungen, die ein zeitgenössisches Musiktheater braucht,
hat Heiner Goebbels bereits 2013 in seinem Vortrag "Zeitgenössische Kunst als Institutionskritik"
angemerkt und skizziert, wie so eine Institution aussehen könnte:
https://www.nachtkritik.de/index.php?option=com content&view=article&id=8198:heiner-goebbels-
stuttgarter-rede-zur-zukunft-der-kultur&catid=101&Itemid=84 . Dieser und alle folgenden Links wurden
am 2.12.2018 das letzte Mal gesichtet.
2 Trailer: https://vimeo.com/channels/koetterseidl/10Q993164. Dieser und alle folgenden Trailer sind
bei vimeo.com in dem Channel: Kötter / Seidl zu finden.
3 In dem Stück kommen neben den vier Leinwänden auch verschiedene Abspielgeräte wie Tonbandgerät,
Super8-Film, Tageslichtprojektor oder Videorekorder zum Einsatz, die von den Darstellern selbst bedient
werden und auf denen sie von ihrer vergangen Arbeit erzählen.
4 Trailer: https://vimeo.com/channels/koetterseidl/197450346
5 Trailer: https://vimeo.com/channels/koetterseidl/197449475
6 Während der Proben, in denen wir viel mit dem schmelzenden Eis probiert haben, mussten wir
feststellen, dass die Blöcke weder gleichmäßig schmelzen, noch einfach beschleunigen oder etwa größere
wärme automatisch schnelleres Tropfen bedeuten würde. Vielmehr sind des Wechselwirkungen zwischen
der Größe des Eisblocks, seiner Oberfläche, die von innen gekühlt wird, der Außentemperatur, der
Anfangstemperatur des Eises, seiner Dichte usw.
7 Trailer: https://vimeo.com/channels/koetterseidl/249777415
8 Eine Einführung in ihre Arbeit mit elektromagnetischen Feldern ist hier zu sehen:
https://vimeo.com/54846163
10 Trailer: https://vimeo.com/channels/koetterseidl/292569222
11 Dieses geradezu graphische Verhältnis von Tönen und Feldaufnahmen habe ich den elektroakustischen
Arbeiten von Michael Pisaro wie z.B . in Shades ofEternal Night oder in der Reihe „Fields have ears"
entnommen. Eine andere wichtige Quelle waren die späten Arbeiten von Morton Feldman, dessen 2.
Streichquartett in der fünften Stunde von Land (Stadt Fluss) zitiert wird.
12 Dass das Publikum diesen Freiraum durchaus genutzt hat, war in allen bisherigen Aufführungen zu
erleben. Nicht wenige sind gegangen und wiedergekommen. Andere, die sich Decken geteilt haben, sind
ins Gespräch gekommen, andere haben sich angeboten, beim Kochen mitzuhelfen oder später
mitzuhelfen, Lampen auszuteilen.
13 Das Stück kann hier gehört werden: http://www.ubu.com/sound/84 ferrari.html
14 Die Einteilung des Tages in zehn Stunden (statt zwölf) wurde 1793 während der französischen
Revolution eingeführt und wurde bis Ende 1805 beibehalten. Zu unterschiedlichen Zeitregimen vgl ua:
Giordano Netti; The Colonisation of Time, Manchester 2012
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